Artikel im Mannheimer Morgen - Tageszeitung

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Artikel im Mannheimer Morgen - Tageszeitung

Beitrag von Archiv »

Diese 3 Artikel standen heute zum Thema Clusterkopfschmerz im Mannheimer Morgen. Mit Sicherheit muss man solchen Themen mit einer gewissen Skepsis begegnen. Zumindest haben mich heute alle möglichen Kollegen darauf angesprochen.

Grüße

Stephan - Mannheim


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Mit einem Kabel wird der Kopf endlich wieder klar

Bei extremen Qualen nehmen die Patienten gerne auch hohe Risiken in
Kauf und unterziehen sich einer Operation


Von unserem Redaktionsmitglied Manfred Loimeier



Die Tiefenhirnstimulation zur Behandlung von Cluster-Kopfschmerz geht
auf ein Verfahren zurück, das der vormals an der Heidelberger
Universitätsklinik arbeitende Professor Volker Tronnier bei
Parkinson-Patienten praktizierte - wie übrigens auch der ehemals in
Mannheim tätige Professor Joachim Kraus, der heute als Chefarzt an
der Medizinischen Hochschule in Hannover tätig ist. Zusammen mit
seinem Heidelberger Mitarbeiter Dr. Dirk Rasche wandte Tronnier im
Juli dieses Jahres die Tiefenhirnstimulation bei Cluster-Kopfschmerz
erstmals in Deutschland an, am Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein in Lübeck, wo Tronnier als Ärztlicher Direktor die
Neurochirurgische Klinik leitet.

Mit Hilfe neuer Forschungsergebnisse zu Durchblutungsmessungen im
Gehirn konnte eine Hirnregion, der Hypothalamus, lokalisiert werden,
die beim Cluster-Kopfschmerz besonders aktiv ist. Wird dort ein
Sensor angebracht, der mit elektrischen Impulsen die Überaktivität
des Hypothalamus hemmt, dann werden dadurch die schmerzauslösenden
Reize im Gehirn unterbunden.

Die Operation verläuft in zwei Schritten: Erstens wird mittels eines
so genannten stereotaktischen Rahmens und der
Magnet-Resonanz-Tomographie - unter örtlicher Betäubung - der exakte
Schmerzpunkt bestimmt. Die Neurochirurgen schieben dann durch ein
kleines Loch im Schädel eine Elektrode millimetergenau in die
entsprechende Hirnregion. Diese Elektrode ist per Kabel mit einem
programmierbaren und von außen steuerbaren Schrittmacher verknüpft,
der seinerseits bei einer zweiten Operation - unter Vollnarkose - zum
Beispiel unter das Schlüsselbein implantiert wird.

Noch gilt dieses Verfahren, das weltweit erst bei etwa 20 Patienten
Anwendung fand, als hochexperimentell. So ist zum Beispiel nach wie
vor unklar, wie sich der Effekt der Tiefenhirnstimulation exakt
entfaltet. Auch der operative Eingriff selbst ist nicht ungefährlich,
worüber die Patienten, wie Rasche betont, selbstverständlich
unterrichtet werden.

So können bei der Platzierung der Elektrode Gehirnstrukturen
getroffen werden, die für Gefühls- oder Bewegungsbahnen
verantwortlich sind. Hirnblutungen, Lähmungen oder andere bleibende
Schäden wären die Folge. Bekannt ist der Fall einer
Gesichtsnervenlähmung - auch Hormonveränderungen wären vorstellbar.
Zudem kam in Mailand ein Patient bei einem solchen Eingriff ums
Leben. Daher gilt das Verfahren der Tiefenhirnstimulation bei
Cluster-Kopfschmerz laut Tronnier nur als "ultima ratio", als letzte
aller vorstellbaren Lösungsmöglichkeiten, die nur dann in Betracht
kommt, wenn alle anderen Therapien definitiv versagen.

Obwohl die Tiefenhirnstimulation in der "Behandlungskette weit
hinten" liegt, wie Rasche sagt, unterstreicht er aber auch, dass der
extreme Schmerz die Bereitschaft von Cluster-Patienten fördert, diese
Risiken auf sich zu nehmen. Die Implantation des Schrittmachers
erfordere immerhin, wie bei einem Herzschrittmacher, keine
begleitende Immuntherapie zur Vermeidung von Abstoßungsphänomenen wie
nach einer Organtransplantation. Das Gerät liegt einfach unter der
Haut, erläutert der Arzt.

Jedoch fehlen, naturgemäß, überdies noch Ergebnisse einer
Langzeitbehandlung. Schon vor zwei Jahren zeigte aber das Beispiel
von fünf Cluster-Kopfschmerzpatienten - die zum Teil bereits über
einen Zeitraum von teilweise 22 Monaten beobachtet worden waren -,
dass sich das Gehirn nicht einfach an die Reizunterdrückung gewöhnt
und trotz der elektrischen Impulse wieder mit Schmerzen reagiert; das
bedeutet, dass in der Tat von einer langfristigen Wirkung der
Tiefenhirnstimulation ausgegangen werden kann. Bis Langzeitdaten
vorliegen, müssten zehn bis 15 Jahre vergehen, sagt Rasche - demnach
ist 2011 bis 2016 mit ersten Ergebnissen solcherart zu rechnen.
Andererseits, betont Rasche, lägen solche langfristige
Vergleichsdaten von Parkinson-Patienten vor, bei denen die
Tiefenhirnstimulation zwar an einer anderen Hirnregion, aber mit
gleichem Wirkprinzip vorgenommen wurde.

Und wenn die Kabel reißen? Das kam innerhalb des Gehirns noch nicht
vor. Heftige Kopfbewegungen aber könnten Kabelbrüche verursachen.
Dafür gibt es jedoch eine permanente Nachsorge.

© Mannheimer Morgen - 13.10.2005



Adresse des Artikels:
www.morgenweb.de
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Auf Knopfdruck schmerzfrei

Premiere in Deutschland: Tiefenhirnstimulation befreit die
Mannheimerin Claudia Eichhorn von ihrem Cluster-Kopfschmerz


Von unserem Redaktionsmitglied Madeleine Bierlein



Sie sieht aus, als wolle sie gerade den Fernseher einschalten.
Claudia Eichhorn sitzt in ihrer Wohnküche, lächelt und drückt auf
eine der Tasten. Doch die Fernbedienung in ihrer Hand hat ein anderes
Ziel. Die Mannheimerin peilt einen Schrittmacher an, den sie seit Juli
im Brustkorb, wenige Zentimeter unterhalb des Schlüsselbeins trägt und
der per Kabel mit einer Elektrode im Gehirn verbunden ist. Sie blickt
ins Leere, abwartend, das Lächeln gefriert für wenige Sekunden auf
ihren Lippen. Dann entspannen sich die Gesichtszüge. "Die Schmerzen
sind weg", freut sich die 39-Jährige. "Jetzt kann sie den
Hirnschrittmacher ausgeschaltet lassen", fügt Ehemann Ralf (44)
hinzu.

Claudia Eichhorn ist die erste Cluster-Kopfschmerzpatientin in
Deutschland, der eine Elektrode zur so genannten
Tiefenhirnstimulation in das Zwischenhirn gesetzt wurde. Das
Verfahren ist neu, bislang wurden weltweit erst 20 Frauen und Männer
so behandelt. Der Erfolg ist zumindest bei Eichhorn verblüffend. Wenn
eine Attacke beginnt, schaltet die Mannheimerin den Schrittmacher ein,
die Sonde sendet Stromimpulse aus. Der Kopfschmerz wird so im
Wortsinne auf Knopfdruck ausgeschaltet. "Ich spüre dann gar nichts
mehr", sagt sie. Zwischendurch stellt die 39-Jährige das Gerät immer
mal wieder aus, um zu sehen, ob der Schmerz noch da ist.

Seit Mai 2004 leidet die Chemiewerkerin an chronischen
Cluster-Kopfschmerzen, einer besonders heimtückischen Art des
Kopfschmerzes. "Das sind Höllenqualen, die kann sich niemand
vorstellen", erzählt sie. Wie ein glühendes Messer im Auge fühle es
sich an - kein Vergleich zur Migräne, die Eichhorn vorher schon
erlebt hatte. Und: Die Attacken blieben bei ihr keineswegs einmalig.
Jeden Tag, jede Nacht kamen sie aufs Neue, manchmal bis zu acht von
ihnen, die längsten dauerten etwa drei Stunden.

Für die einst so lebenslustige Mannheimerin wurde das Leben
unerträglich. Sie verlor ihr Lachen, musste aufhören zu arbeiten,
schlief kaum noch. "Eines Tages rief ich meinen Arzt an und sagte
,Wenn Sie mir nicht helfen, bringe ich mich um‘." Und das meinte
Eichhorn durchaus ernst. Während der Attacken biss sie so fest die
Backenzähne zusammen, dass mehrere von ihnen wacklig wurden. Das
einzige, was die Schmerzen ein wenig linderte, war zügiges Gehen.
Nachts lief sie stundenlang im Schlafzimmer umher. Auf und ab. Und ab
und auf. Das Familienleben begann zu leiden. "Beim Gehen wiederholte
sie immer wieder ,Ich halt‘s nicht mehr aus‘. Da konnte ich natürlich
auch nicht schlafen und war morgens ganz kaputt", erinnert sich Ralf
Eichhorn. Seine Frau wurde unzufrieden, manchmal sogar aggressiv
gegenüber Mann und den beiden Kindern - ein völlig neuer
Charakterzug. Aber die Familie war stark. "Es war eine harte Zeit,
doch wir haben zum größten Teil zusammengehalten", sagt der
44-jährige Maschinenschlosser heute. Und seine Frau - inzwischen
wieder lachend - fügt hinzu: "Ein anderer wär‘ wahrscheinlich
weggerannt."

Bis zur erfolgreichen Tiefenhirnstimulation sollte es allerdings noch
ein langer Weg und ein teils abenteuerlicher Ärzteparcours werden. Der
langjährige Hausarzt diagnostizierte anfangs Spannungskopfschmerzen
und verschrieb Schmerzmittel, die aber nicht halfen. Im Mannheimer
Klinikum gab es härtere Präparate. Doch Eichhorn, die zwei Jahre
zuvor einen Niereninfarkt erlitten hatte, reagierte mit starken
Nebenwirkungen. Ihre geschädigten Organe waren mit dem Abbau der
Medikamente überfordert. In ihrer Verzweiflung recherchierte sie
selbst im Internet, wandte sich an die Heidelberger Schmerzambulanz
und an eine renommierte Schmerzklinik in Kiel. Auch das stellte die
Familie auf die Probe: Ehemann Ralf Eichhorn nahm sich immer wieder
Urlaub, um seine Frau zu den Arztterminen begleiten zu können. Die
17-jährige Tochter schmiss unterdessen den Haushalt und kochte für
ihren jüngeren Bruder. Dazu kam die finanzielle Belastung. Der
Verdienstausfall machte sich bemerkbar. Die Zuzahlungen zu
mittlerweile täglich 28 Tabletten sowie die Fahrtkostenrechnungen,
von der die Krankenkasse nichts übernehmen wollte, belasteten das
Familienbudget zusätzlich. Und noch immer war unklar, ob sich der
Einsatz jemals rentieren würde.

Nach monatelangem Suchen fanden die Ärzte schließlich eine erste,
teilweise wirksame Therapie - die Sauerstoffinhalation. Doch damit
wurden die Qualen nur abgemildert, nicht etwa gestoppt. Zum
Durchbruch kam es erst im April 2005: In der Heidelberger
Schmerzambulanz zogen die Ärzte erstmals die Möglichkeit der
Tiefenhirnstimulation in Erwägung. Denn dort hatte der Neurochirurg
Volker Tronnier vor zehn Jahren die Behandlung für
Parkinson-Patienten mit etabliert, bei Clusterschmerz war sie aber
bislang nur in Belgien und Italien angewandt worden.

Als Claudia Eichhorn zum ersten Mal von der Möglichkeit einer
Gehirnoperation erfuhr, war sie Feuer und Flamme. "Ich habe mich so
gefreut. Ich dachte, endlich bekomme ich Hilfe", erinnert sie sich.
Ihr Mann indes war angesichts des schweren Eingriffs nicht so
begeistert, fürchtete, das Gehirn könnte geschädigt werden. "Ich
hatte mehr Angst als sie." Aber die seit nunmehr einem Jahr kranke
Frau blieb zuversichtlich. Eine Vorbesprechung mit Tronnier fand in
Heidelberg statt, doch dann wechselte der Mediziner an die
Neurochirurgische Klinik in Lübeck. Im Juli dieses Jahres fuhr
Claudia Eichhorn schließlich zur Operation in die Hansestadt - ihr
Mann war wie immer an ihrer Seite.

Selbst als die 39-Jährige auf dem Weg in den OP in den Fahrstuhl
geschoben wurde, plagte sie kein Zweifel. "Ich wusste, das wird
etwas." Und dieses Mal war auch der Schmerz auf ihrer Seite: Während
des Eingriffs bekam die 39-Jährige eine schwere
Cluster-Kopfschmerzattacke - ein Segen, denn so konnten die Ärzte die
Sonde genau in der Mitte des betroffenen Gehirn-areals positionieren.
Als eine Woche später der Schrittmacher in die Brust eingepflanzt
wurde, war das für Eichhorn nur noch eine Lappalie.

Heute ist die Mannheimerin schmerzfrei - vorausgesetzt, ihre
Fernbedienung befindet sich in Reichweite. Sie lacht wieder viel und
gerne. Und sie wird bald zu ihrer Arbeit zurückkehren. "Das Leben hat
mich wieder", freut sich die 39-Jährige. Und: "Ich würde es jederzeit
wieder machen."

© Mannheimer Morgen - 13.10.2005

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Die Hölle tobt im Hirn

Migräne ist nichts dagegen


Von unserem Redaktionsmitglied Manfred Loimeier



Bei Cluster-Kopfschmerz geht nichts mehr. Sogar mit der schlimmsten
"normalen" Migräne ist dieser Kopfschmerz nicht zu vergleichen. Der
Cluster-Kopfschmerz strahlt auf einer Kopfseite bis in den Nacken und
die Schultern aus, die Nase verstopft, ein Auge tränt; manchmal
schwillt ein Augenlid an. Der Schmerz tritt zu gewissen Zeiten
gehäuft auf - daher der Name Cluster, der im Englischen eine Gruppe,
einen Haufen, bezeichnet. Gerne kommt der Schmerz auch nach dem
Einschlafen oder am Morgen, und die Attacken dauern von einer
Viertelstunde bis zu drei Stunden.

Bei der Mehrheit der Cluster-Kopfschmerzpatienten kommen die
Beschwerden periodisch, im Frühjahr oder im Herbst, bleiben Tage und
Monate und verschwinden dann wieder für eine gewisse, nicht absehbare
Zeit. Das ist der so genannte episodische Cluster-Kopfschmerz. Sind
die Intervalle der Schmerzattacken kürzer als 14 Tage, spricht man
vom chronischen Cluster-Kopfschmerz. Etwa ein Fünftel der
Cluster-Kopfschmerzpatienten ist davon betroffen, und die Schmerzen
müssen so grausam sein, dass Selbstmordgedanken nicht abwegig sind.
In Zahlen ausgedrückt sind es zirka 40 000
Cluster-Kopfschmerzpatienten, die es in Deutschland gibt. Davon sind
die meisten Männer, und davon sind die meisten Raucher.

Zwei Faktoren gelten als mögliche Ursachen: Erstens biorhythmische
Störungen, durch die der Hypothalamus, der im Gehirn unter anderem
für den Schlaf-Wach-Rhythmus zuständig ist, besonders aktiviert wird.
Dadurch entzündet sich ein Blutgefäß im Gehirn, und dieser
Entzündungsprozess reizt die auf engstem Raum gebündelt daneben
liegenden Nerven für Augen, Augenlid und Gesicht. Zweitens äußere
Einflüsse wie Alkohol, Nikotin, flackernde Monitore, körperliche
Anstrengung oder Medikamente, die ebenfalls gefäßerweiternd wirken.
Eine gewisse genetische Grundstruktur dürfte zudem vorhanden sein.

Die Schwierigkeit liegt schon darin, Cluster-Kopfschmerz zu
diagnostizieren. Zumeist tippen Ärzte auf Migräne, von der sich
Cluster-Kopfschmerz aber zum Beispiel dadurch unterscheidet, dass mit
ihm keine Übelkeit einhergeht. So dauert es in der Regel mehrere -
durchschnittlich fünf - Jahre, bis ein Cluster-Kopfschmerz als
solcher identifiziert wird. Bei Cluster-Kopfschmerz helfen weder
Entspannungsübungen noch Akupunktur, da der Schmerz nicht von der
Psyche beeinflusst ist. Gewissheit erhalten
Cluster-Kopfschmerzpatienten durch ein Elektroenzephalogramm (EEG),
bei dem Gehirnströme gemessen werden, oder durch ein
Magnet-Resonanz-Tomogramm (MRT) des Gehirns.

Als Therapie hilft die konzentrierte Zufuhr von Sauerstoff.
Medikamente können mittelfristig die Häufigkeit der Attacken senken.
Relativ neu ist nun die Tiefenhirnstimulation, die bisher bei
Parkinson-Kranken eingesetzt wurde. Mit ihr lassen sich
schmerzauslösende Reize permanent oder allein bei Bedarf
unterbinden.

© Mannheimer Morgen - 13.10.2005
Gesperrt