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Haben Sozialrichter eine Trendwende im Off-Label-Use eingeleitet?

Verfasst: So 14. Jan 2018, 14:56
von Archiv
Von RA PD Dr. jur. Dr. med. Christian Dierks

Die bisherige Rechtsprechung zur Leistungspflicht der Krankenkassen für Importarzneimittel und im Bereich des Off-Label-Use hat das Bundessozialgericht durch eine neue Entscheidung verfeinert. Bei besonders seltenen und gefährlichen Erkrankungen müssen fachspezifische Erwägungen den Vorrang vor formalen Betrachtungen haben.

Hat eine sechsjährige Patientin mit der seltenen Diagnose Aderhautkolobom Anspruch auf den Einsatz eines Medikaments, das nur in der Schweiz und nur zur Behandlung der Makula-Degeneration bei über 50-jährigen Patienten zugelassen ist? Mit dieser Frage mußte sich der 1. Senat des Bundessozialgerichts beschäftigen. Die Krankenkassen hatten eine Leistungspflicht abgelehnt, aber bereits vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht verloren.

Während das Landessozialgericht annahm, die Behandlung könnte beansprucht werden, weil sich der Bundesausschuß längst mit der Behandlungsmethode hätte auseinandersetzen müssen (Systemversagen), hat das Bundessozialgericht eine andere Argumentation für einschlägig gehalten.

Ein Systemversagen kann nach Auffassung der Kasseler Richter nur dann vorliegen, wenn es um eine Behandlungsmethode geht. Darunter sei aber nicht der Einsatz eines einzelnen Medikaments, sondern die Anwendung von Behandlungsmaßnahmen bei einem bestimmten Krankheitsbild, zu deren therapeutischen Nutzen generelle Aussagen möglich sind, zu verstehen.

Die Anwendung eines Medikaments bei einer äußerst selten auftretenden Erkrankung kann aber keine solche Behandlungsmethode sein. Wenn wegen der Seltenheit der Erkrankung eine systematische Erforschung ausscheidet, ist die Arzneimittelqualität im Hinblick auf die Indikation im Einzelfall zu überprüfen. Wenn dann ausländische Zulassungen den Schluß erlauben, daß diese Arzneimittelqualität im Behandlungszeitpunkt ausreichend ist, wird auch die Krankenkasse leistungspflichtig.

Da das Bundessozialgericht keine Tatsacheninstanz ist, hat es die Angelegenheit zum Landessozialgericht zurückverwiesen, damit dort geprüft werden kann, ob die Vermutung hinsichtlich der Seltenheit der Erkrankung und damit der praktische Ausschluß der Erforschungsmöglichkeit tatsächlich besteht. Nebenbei hat das Bundessozialgericht festgestellt, daß der Leistungspflicht der Krankenkasse nicht entgegensteht, daß das Arzneimittel im Wege der Einzeleinfuhr aus dem Ausland (gem. Paragraph 73 Abs. 2 AMG) bezogen werden muß.

Dies ist umso bemerkenswerter, als der selbe Senat am 18. Mai 2004 (Az.: B 1 KR 21/02 R) entschieden hatte, daß Medikamente, denen die Zulassung im Inland versagt wurde, jedenfalls nicht zu Lasten der GKV verordnet und importiert werden dürfen ("Immucothel-Entscheidung"). So lag der Fall hier jedenfalls nicht, da das Medikament wenige Monate nach der Behandlung europaweit zugelassen wurde.

Noch liegen die vollständigen Entscheidungsgründe nicht vor. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß mit dieser Entscheidung die durch das Immucothel-Urteil zugeschlagene Tür für ausländische Medikamente wieder ein Stückchen geöffnet wird.

Schließlich enthält die Pressemitteilung des Gerichts auch eine bemerkenswerte Äußerung zum Off-Label-Use: betrifft die Behandlung eine die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung, deren Einzigartigkeit verallgemeinerungsfähige Aussagen zur Therapie nicht zuläßt, sind für die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines eingesetzten Mittels keine Nachweise zu fordern, die über die Zulassungsanforderungen im Ausland, etwa in der Schweiz oder in den USA hinaus gehen. Dies gilt zumindest dann, so lange die Abwägung von Nutzen und Risiken des Eingriffs nicht zu beanstanden ist und keine Behandlungsalternative ernsthaft zur Verfügung steht.

Bundessozialgericht, Aktenzeichen: B 1 KR 27/02 R

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Jakob-Waldfeucht