Schmerz: Großteil ist unter-und Fehlversorgt -Prof.Dr.Göbel, Kiel
Verfasst: Mi 28. Mär 2018, 08:58
Schmerz: Großteil ist unter- und fehlversorgt
Publiziert am 16. Juli 2013 von Prof. Dr. Hartmut Göbel
Prof. Hartmut Göbel
Schleswig-Holstein und Hamburg bilden Schlusslicht bei der Versorgung durch Schmerztherapeuten
In Schleswig-Holstein und Hamburg sind rund 40 Prozent aller Patienten mit chronischen Schmerzen nicht in ärztlicher Behandlung. Und nur die wenigsten werden von ausgebildeten Schmerztherapeuten therapiert. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen repräsentativen forsa-Umfrage unter deutschlandweit 1.822 Schmerzpatienten im Auftrag der Initiative „Wege aus dem Schmerz“.
Danach befragt, ob ihr behandelnder Arzt die Zusatzbezeichnung „Schmerztherapeut“ trägt, antworteten 80 Prozent mit „Nein“. Mit gerade einmal zwei Prozent werden in Schleswig-Holstein und Hamburg deutschlandweit die wenigsten Patienten von einem Schmerztherapeuten behandelt.
Die Ergebnisse bestätigen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Versorgungssituation hierzulande: Ein Großteil der Patienten ist unter- beziehungsweise fehlversorgt. Teilweise werden sie jahrelang falsch behandelt, weil die Fachkenntnis für das komplexe Krankheitsbild Chronischer Schmerz fehlt.1 „Ärzte brauchen eine bessere Ausbildung und einen vereinfachten Zugang zu Fortbildungsangeboten, um das vielschichtige Krankheitsbild Chronischer Schmerz therapieren zu können. Dafür muss Schmerztherapie als Pflichtbestandteil des Medizinstudiums und als eigenes Fachgebiet definiert werden“, sagt Professor Dr. Rolf-Detlef Treede, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) und Professor für Neurophysiologie am Centrum für Biomedizin und Medizintechnik Mannheim.
Prof. Hartmut Göbel beantwortet im Interview* die Fragen zur Versorgungslage von Oliver Hamel, Kieler Nachrichten, Redakteur für Politik, Wirtschaft und Soziales:
Zwölf Millionen Deutsche leiden unter chronischen Schmerzen. Knapp 40 Prozent von ihnen befinden sich nicht in ärztlicher Behandlung. Woran liegt das?
Viele haben aufgegeben. Sie sind durch ihr Leiden mürbe, zurückgezogen, kraftlos, leiden leise und allein. Schmerz macht still, traurig, einsam, er greift die Persönlichkeit an. Die Zuversicht, dass die Schmerzen jemals besser werden, erlischt. Die massiven Auswirkungen der Schmerzen auf Familie, Partnerschaft, Beruf und soziale Bindungen lassen ohne Perspektive aufgeben. Am Ende stehen oft Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Resignation. Man geht nicht auf die Straße, man zerbricht. Erst schwerwiegende Komplikationen der Schmerzkrankheit führen wieder in die Behandlung zurück, oft erst dann, wenn es fast zu spät ist.
Was läuft falsch?
Chronischer Schmerz ist Volkskrankheit Nummer eins, ein Hauptgesundheitsproblem in der Bevölkerung. Die Wissenschaft und Medizin haben in den letzten Jahren sehr bedeutsame Fortschritte in der wirksamen Behandlung von chronischen Schmerzen erzielt. Haupthindernisse dafür, dass dieses Wissen bei den Betroffenen nicht ankommt, sind mangelnde Organisation und Koordination des Gesundheitssystems. Schmerztherapie muss über die Fachgrenzen und die Sektoren traditioneller Strukturen geplant werden. Schubladendenken und Versorgungsplanung mit Scheuklappen würde den Schmerz-Analphabetismus der Vergangenheit verfestigen.
Inwieweit liegt das Problem bei den Medizinern?
Alleinige Fachspezialisierung kann zu eindimensionalem Denken führen, der Blick kann dann zu starr am Detail haften. Folge kann sein, dass die Schmerzursache wie durch ein Schlüsselloch gesucht wird. Findet sich dann nicht „die eine“ Ursache, d.h. lässt sich der Schmerz nicht erklären oder mit schnellen Maßnahmen beheben, muss eine weitere Koordination der Behandlung erfolgen. Spätestens jetzt sollte einbezogen werden, dass der Schmerz nicht mehr Symptom ist, sondern eine eigenständige Erkrankung, die koordiniert und fachübergreifend behandelt werden muss.
Brauchen wir mehr Universal-Mediziner gegen den Schmerz?
Eine verbesserte Aus-, Weiter- und Fortbildung sind wesentliche Schlüssel für eine effektivere Schmerztherapie der Zukunft. Hausärzte haben ein sehr breites Fachwissen und Kenntnisse über den Krankheitsverlauf. Sie sind entscheidende Weichensteller in der Versorgungskoordination, benötigen dazu jedoch zielgerichtet Anlaufstellen für schwer Betroffene, um ihnen ein multimodale Schmerztherapie zu eröffnen. Man versteht darunter eine Behandlung, die sämtliche zeitgemäße Therapieverfahren gleichzeitig integriert. Kernbestandteile sind dabei spezielle schmerztherapeutische Behandlungen mehrerer Fachgebiete einschließlich psychologischer und physiotherapeutischer Behandlungen sowie intensive Information und Schulung. Das Prinzip ist ähnlich dem Flicken eines Fahrradschlauches. Hat dieser fünf Löcher, muss man alle gleichzeitig finden und schließen. Flickt man nur eines, ist am nächsten Tag das Rad wieder platt. Auf solche zeitgemäßen Behandlungen müssen viele Betroffen ambulant monatelang warten. Schwerbetroffene, die eine spezielle stationäre Behandlung benötigen, müssen oft aufgrund fehlender Strukturen und Koordination für eine Versorgung kämpfen, habe aber häufig keine Kraft mehr dazu.
Schmerzkranken kann also nur durch ein Bündel von Maßnahmen geholfen werden?
Schmerz hält sich nicht an unsere Schablonen, Schubladen und Sektoren des Gesundheitssystems. Hinter chronischem Schmerz verbergen sich komplexe biochemische, physiologische, psychologische und soziale Zusammenhänge. Ein initial auslösender Schmerzreiz und dessen alleinige Behebung ist für die Aufrechterhaltung und Chronifizierung von Schmerzen im chronischen Stadium meist nicht mehr relevant. Hier muss mit umfangreichen fachübergreifenden Maßnahmen koordiniert vorgegangen werden, um das Schmerzgeschehen in den Griff zu bekommen.
Wie hat sich Schmerz aus ihrer Klinikperspektive verändert?
Wir beobachten mehr verheerende, schwere Krankheitsbilder, gerade schon bei jungen Leuten. Im Kopfschmerzbereich z.B. finden sich z.B. schwerste chronische Migräneerkrankungen bei Jugendlichen, mit bis zu 30 Tagen Schmerz im Monat. Der Schmerz führt zu monatelangen Fehlen in der Schule, Ausbildung und Studium werden abgebrochen. Schmerzen treten heute früher im Leben und mit mehr Komplikationen auf.
Wie lässt sich diese erschreckende Entwicklung erklären?
Wesentlich sind unsere gesellschaftlichen Veränderungen. Die jungen Menschen sind heute unübersehbar schwerer belastet. Im Beruf durch höhere Beanspruchung, im Privaten durch weniger entlastende Umfelder. Die Familienbünde sind schwächer und weniger stabil: Immer mehr Menschen müssen immer mehr alleine tragen. Chronische Schmerzen finden sich häufiger bei geringerem Einkommen und sozialer Benachteiligung. Auch ist die Toleranz, Krankheit anderer mitzutragen, gesunken.
Welchen Weg sollten Betroffene gehen?
Ich rate ihnen: Seien Sie Ihr eigener Anwalt! Verschaffen Sie sich Klarheit zur Diagnose. Machen Sie einen Termin bei einem Schmerztherapeuten. Seien Sie offen für ein komplexes Bedingungsgefüge von chronischen Schmerzen und eine multimodale Behandlung. Sie sollten Selbstinitiative ergreifen, auf gar keinen Fall passiv bleiben. Sie sollten handeln, sich selbst einbringen, sich nicht nur behandeln lassen. Finden oder gründen Sie eine Selbsthilfegruppe. Verschaffen Sie sich Information und Wissen.
Publiziert am 16. Juli 2013 von Prof. Dr. Hartmut Göbel
Prof. Hartmut Göbel
Schleswig-Holstein und Hamburg bilden Schlusslicht bei der Versorgung durch Schmerztherapeuten
In Schleswig-Holstein und Hamburg sind rund 40 Prozent aller Patienten mit chronischen Schmerzen nicht in ärztlicher Behandlung. Und nur die wenigsten werden von ausgebildeten Schmerztherapeuten therapiert. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen repräsentativen forsa-Umfrage unter deutschlandweit 1.822 Schmerzpatienten im Auftrag der Initiative „Wege aus dem Schmerz“.
Danach befragt, ob ihr behandelnder Arzt die Zusatzbezeichnung „Schmerztherapeut“ trägt, antworteten 80 Prozent mit „Nein“. Mit gerade einmal zwei Prozent werden in Schleswig-Holstein und Hamburg deutschlandweit die wenigsten Patienten von einem Schmerztherapeuten behandelt.
Die Ergebnisse bestätigen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Versorgungssituation hierzulande: Ein Großteil der Patienten ist unter- beziehungsweise fehlversorgt. Teilweise werden sie jahrelang falsch behandelt, weil die Fachkenntnis für das komplexe Krankheitsbild Chronischer Schmerz fehlt.1 „Ärzte brauchen eine bessere Ausbildung und einen vereinfachten Zugang zu Fortbildungsangeboten, um das vielschichtige Krankheitsbild Chronischer Schmerz therapieren zu können. Dafür muss Schmerztherapie als Pflichtbestandteil des Medizinstudiums und als eigenes Fachgebiet definiert werden“, sagt Professor Dr. Rolf-Detlef Treede, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) und Professor für Neurophysiologie am Centrum für Biomedizin und Medizintechnik Mannheim.
Prof. Hartmut Göbel beantwortet im Interview* die Fragen zur Versorgungslage von Oliver Hamel, Kieler Nachrichten, Redakteur für Politik, Wirtschaft und Soziales:
Zwölf Millionen Deutsche leiden unter chronischen Schmerzen. Knapp 40 Prozent von ihnen befinden sich nicht in ärztlicher Behandlung. Woran liegt das?
Viele haben aufgegeben. Sie sind durch ihr Leiden mürbe, zurückgezogen, kraftlos, leiden leise und allein. Schmerz macht still, traurig, einsam, er greift die Persönlichkeit an. Die Zuversicht, dass die Schmerzen jemals besser werden, erlischt. Die massiven Auswirkungen der Schmerzen auf Familie, Partnerschaft, Beruf und soziale Bindungen lassen ohne Perspektive aufgeben. Am Ende stehen oft Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Resignation. Man geht nicht auf die Straße, man zerbricht. Erst schwerwiegende Komplikationen der Schmerzkrankheit führen wieder in die Behandlung zurück, oft erst dann, wenn es fast zu spät ist.
Was läuft falsch?
Chronischer Schmerz ist Volkskrankheit Nummer eins, ein Hauptgesundheitsproblem in der Bevölkerung. Die Wissenschaft und Medizin haben in den letzten Jahren sehr bedeutsame Fortschritte in der wirksamen Behandlung von chronischen Schmerzen erzielt. Haupthindernisse dafür, dass dieses Wissen bei den Betroffenen nicht ankommt, sind mangelnde Organisation und Koordination des Gesundheitssystems. Schmerztherapie muss über die Fachgrenzen und die Sektoren traditioneller Strukturen geplant werden. Schubladendenken und Versorgungsplanung mit Scheuklappen würde den Schmerz-Analphabetismus der Vergangenheit verfestigen.
Inwieweit liegt das Problem bei den Medizinern?
Alleinige Fachspezialisierung kann zu eindimensionalem Denken führen, der Blick kann dann zu starr am Detail haften. Folge kann sein, dass die Schmerzursache wie durch ein Schlüsselloch gesucht wird. Findet sich dann nicht „die eine“ Ursache, d.h. lässt sich der Schmerz nicht erklären oder mit schnellen Maßnahmen beheben, muss eine weitere Koordination der Behandlung erfolgen. Spätestens jetzt sollte einbezogen werden, dass der Schmerz nicht mehr Symptom ist, sondern eine eigenständige Erkrankung, die koordiniert und fachübergreifend behandelt werden muss.
Brauchen wir mehr Universal-Mediziner gegen den Schmerz?
Eine verbesserte Aus-, Weiter- und Fortbildung sind wesentliche Schlüssel für eine effektivere Schmerztherapie der Zukunft. Hausärzte haben ein sehr breites Fachwissen und Kenntnisse über den Krankheitsverlauf. Sie sind entscheidende Weichensteller in der Versorgungskoordination, benötigen dazu jedoch zielgerichtet Anlaufstellen für schwer Betroffene, um ihnen ein multimodale Schmerztherapie zu eröffnen. Man versteht darunter eine Behandlung, die sämtliche zeitgemäße Therapieverfahren gleichzeitig integriert. Kernbestandteile sind dabei spezielle schmerztherapeutische Behandlungen mehrerer Fachgebiete einschließlich psychologischer und physiotherapeutischer Behandlungen sowie intensive Information und Schulung. Das Prinzip ist ähnlich dem Flicken eines Fahrradschlauches. Hat dieser fünf Löcher, muss man alle gleichzeitig finden und schließen. Flickt man nur eines, ist am nächsten Tag das Rad wieder platt. Auf solche zeitgemäßen Behandlungen müssen viele Betroffen ambulant monatelang warten. Schwerbetroffene, die eine spezielle stationäre Behandlung benötigen, müssen oft aufgrund fehlender Strukturen und Koordination für eine Versorgung kämpfen, habe aber häufig keine Kraft mehr dazu.
Schmerzkranken kann also nur durch ein Bündel von Maßnahmen geholfen werden?
Schmerz hält sich nicht an unsere Schablonen, Schubladen und Sektoren des Gesundheitssystems. Hinter chronischem Schmerz verbergen sich komplexe biochemische, physiologische, psychologische und soziale Zusammenhänge. Ein initial auslösender Schmerzreiz und dessen alleinige Behebung ist für die Aufrechterhaltung und Chronifizierung von Schmerzen im chronischen Stadium meist nicht mehr relevant. Hier muss mit umfangreichen fachübergreifenden Maßnahmen koordiniert vorgegangen werden, um das Schmerzgeschehen in den Griff zu bekommen.
Wie hat sich Schmerz aus ihrer Klinikperspektive verändert?
Wir beobachten mehr verheerende, schwere Krankheitsbilder, gerade schon bei jungen Leuten. Im Kopfschmerzbereich z.B. finden sich z.B. schwerste chronische Migräneerkrankungen bei Jugendlichen, mit bis zu 30 Tagen Schmerz im Monat. Der Schmerz führt zu monatelangen Fehlen in der Schule, Ausbildung und Studium werden abgebrochen. Schmerzen treten heute früher im Leben und mit mehr Komplikationen auf.
Wie lässt sich diese erschreckende Entwicklung erklären?
Wesentlich sind unsere gesellschaftlichen Veränderungen. Die jungen Menschen sind heute unübersehbar schwerer belastet. Im Beruf durch höhere Beanspruchung, im Privaten durch weniger entlastende Umfelder. Die Familienbünde sind schwächer und weniger stabil: Immer mehr Menschen müssen immer mehr alleine tragen. Chronische Schmerzen finden sich häufiger bei geringerem Einkommen und sozialer Benachteiligung. Auch ist die Toleranz, Krankheit anderer mitzutragen, gesunken.
Welchen Weg sollten Betroffene gehen?
Ich rate ihnen: Seien Sie Ihr eigener Anwalt! Verschaffen Sie sich Klarheit zur Diagnose. Machen Sie einen Termin bei einem Schmerztherapeuten. Seien Sie offen für ein komplexes Bedingungsgefüge von chronischen Schmerzen und eine multimodale Behandlung. Sie sollten Selbstinitiative ergreifen, auf gar keinen Fall passiv bleiben. Sie sollten handeln, sich selbst einbringen, sich nicht nur behandeln lassen. Finden oder gründen Sie eine Selbsthilfegruppe. Verschaffen Sie sich Information und Wissen.